Die Corona-Pandemie hat etlichen Trends den entscheidenden Schub verliehen. Der Abkehr vom Bargeld etwa, dem Ersatz von Geschäftsreisen durch Videokonferenzen oder dem Aufbohren klassischer Präsenzmessen zu „Hybrid-Events“. Markus Herkersdorf, Geschäftsführer des Ulmer Unternehmens TriCAT, spürt dies jeden Tag. Quasi aus allen Himmelsrichtungen kommt derzeit die Nachfrage nach den virtuellen Welten, die TriCAT bereits seit 2002 für große und kleine Unternehmen entwickelt. „Die Zeit ist jetzt einfach reif dafür“, glaubt der Firmenchef, der anfangs mit Trainings- und Simulationslösungen im Luftfahrtbereich gestartet ist.
Beim jüngsten MFG Gastspiel Anfang März hat Herkersdorf rund 20 Interessierte in die virtuelle Welt von TriCAT Spaces eingeladen. Mitarbeiter*innen von Universitäten, Messe- oder Schulungsveranstaltern trafen sich als Avatare im digitalen Konferenzzentrum, lauschten Vorträgen, besuchten Messestände und tauschten sich aus. Gesteuert werden die Alter Egos ganz einfach durch Pfeil- und Funktionstasten der PC-Tastatur. Per Headset lässt sich interagieren und kommunizieren. Auch Emotionen, etwa Beifall, Freude, Zustimmung oder Ablehnung, können per Klick geäußert werden. Jugendlichen mag dies aus ihren Videospielen vertraut vorkommen. Für die erwachsenden Teilnehmenden, zumal wenn sie noch in einer analogen Welt aufgewachsen sind, ist es oft Neuland.
„Wir virtualisieren die gesamte gegenständliche Welt“
Wenn Herkersdorf das ganze Potenzial dieser „immersiven“ Technologien – das Kunstwort steht für Eintauchen (Definition im Kasten) – beschreiben will, zeichnet er gerne das ganz große Bild. „Wir legen über unsere physische Präsenzumgebung eine virtuelle Schicht, in der wir mit Hilfe unserer Avatare in den produktiven Austausch gehen.“ Still und leise werde so die gesamte gegenständliche Welt virtualisiert – Maschinen, Gebäude oder auch ganze Städte. Google etwa habe kein geringeres Ziel, als einen digitalen Zwilling der gesamten Welt zu erschaffen und diesen mit allerlei Funktionen anzureichern, führt Herkersdorf beispielhaft an.
Was sind immersive Technologien
Das Kunstwort immersiv ist vor allem in der Welt der Computerspiele gebräuchlich. Abgeleitet aus dem englischen Begriff „Immersion“ (übersetzt: Eintauchen oder Vertiefen in eine Sache) beschreibt es den Effekt, dass Spieler*innen in fiktive Scheinwelten quasi hineingezogen werden und dabei ihre reale Umwelt vergessen. Besonders immersiv sind Spiele mit stimmigen virtuellen Welten, realitätsnahem Verhalten der Charaktere (Avatare) und ausgefeilten Interaktionsmöglichkeiten. Besonders immersive Spiele sind oft auch solche mit hohem Suchtpotenzial.
Welches Potenzial hier für Unternehmen schlummert, offenbart eine einfache Frage: Wozu braucht man eigentlich – abgesehen vom sozialen Miteinander – die physische Präsenz vor Ort? „Nur noch für Fertigung und Montage“, glaubt Herkersdorf. Alles andere, ob Creation und Planung, Schulung und Training, Marketing und Sales, Kommunikation und Kollaboration oder auch die Bedienung von Maschinen oder Support lasse sich prinzipiell in den virtuellen Raum verlagern.
Beispiele dafür gibt es zuhauf: In einem gemeinsamen F+E-Projekt mit Maschinenbauer Trumpf aus Ditzingen etwa hat TriCAT einen voll funktionsfähigen digitalen Maschinenzwilling entwickelt, an dem Schulungsteilnehmer die Bedienung der Werkzeugmaschinen trainieren. Audi etwa habe Teile des Softskill- wie des Techniktrainings in die virtuelle Akademie verlegt, berichtet Herkersdorf – „mit Motorhaube auf und Messgerät rein“.
„Es gab anfangs viel Skepsis“
Ein Großprojekt für TriCAT war vor einigen Jahren der Gotthardt-Basistunnel. Voraussetzung für die behördliche Freigabe waren erfolgreiche Notfalltrainings, teilweise mit mehreren tausend Teilnehmer*innen – in der realen Welt kaum zu stemmen. TriCAT hat daraufhin den Tunnel virtualisiert und für über 4.500 Personen in ihren unterschiedlichen Rollen und Funktionen „trainierbar gemacht“. „Es gab anfangs viel Skepsis“, erinnert sich Herkersdorf. Doch das Ganze funktionierte – mit der Folge, dass der Eröffnungstermin gehalten werden konnte. Und die Schweizer Bundesbahn scheint heute ein echter Fan ihrer digitalen Welt zu sein. Mechaniker werden hier mit der Technik der Züge vertraut gemacht, Zugbegleiter lösen Türstörungen, die Feuerwehr macht Notfallübungen.
Die virtuellen Welten werden in immer Lebensbereiche vordringen, ist Herkersdorf überzeugt. Derzeit befindet sich TriCAT in der Vorphase eines Forschungsprojekts zum Thema E-Partizipation in Extended Reality (XR)-Umgebungen, das im Juli starten soll. Ziel ist es, die Möglichkeiten immersiver Umgebungen für die Bürgerbeteiligung auszuloten, etwa in der Bauplanung von Kommunen.